Erstes Kapitel

Für Dich
von mir
Literatur

Vor ein paar Tagen stand er plötzlich wieder vor der Tür. Unangemeldet. Ich wollte ihn gar nicht empfangen, hatte Besuch von meiner Tochter, die im Wohnzimmer schlief und am nächsten Morgen um 5 Uhr raus musste. Es ist ja nicht gerade sehr geräumig hier, wenngleich ich mir die Besenkammer als Schlafgemach eingerichtet habe - meine Traumstätte, mein Tempel, meine Hütte, mein Zelt, meine Herzkammer, mein Schloß. Die Küche ist hier das Kinderzimmer, in welchem der Kleine schlief. Also Herd und Kühlschrank stehen da nicht drin, die sind provisorisch im Flur untergebracht, ich konnte also immer noch Tee kochen. Und ja was soll ich sagen, ich ließ ihn dann doch ein und kochte Tee für ihn. 

Ums vorweg zu sagen: Ich mag ihn, trotz allem, also obwohl ich nicht weiss was uns beide eigentlich verbindet, was er von mir will und wer ihn geschickt hat. Ob er mal Soldat war, weiss ich nicht, auch nicht ob er jetzt als Spitzel unterwegs ist und für wen er spioniert, ich weiss eigentlich gar nichts über ihn, er hingegen weiss schon so einiges über mich. Was er nicht irgendwo gelesen hat, im Internet oder in irgendwelchen anderen, geheimen Archiven, habe ich ihm selbst bereitwillig erzählt. Warum weiss ich eigentlich auch nicht so genau. Ich wollte herausfinden was genau er von mir will. Und da habe ich seine Fragen beantwortet und von mir erzählt, um zu sehen, wie er die Informationen aufnimmt, was genau er wissen will und - ja er wollte auch Sex und wir hatten Sex aber da war kein Gefühl weder bei ihm noch bei mir. Mitunter war das ganze ziemlich unschön, herzlos bis entwürdigend und in keinster Weise lustvoll. Wobei - es gab da schon so kleine, kurze Anflüge von Lust...naja.

Trotzdem möchte ich nochmals hervorheben, dass ich den Kerl gern habe. Ich habe das Gefühl, dass er sich selbst irgendwann einmal vollständig verloren hat und dass seine jetzige Identität, die ich wie gesagt überhaupt nicht erfassen kann, der bloße Fake ist, eine Legende. So als trüge er die Identität eines anderen, möglicherweise  längst verstorbenen Menschen. Hüllt sich in sie, wie in einen Mantel, einen alten zerknitterten Trenchcoat.

Gut möglich, dass wir beide mehr miteinader gemein haben, als mir lieb ist und vermutlich ist es genau das, was mich an ihm interessiert und weswegen ich ihm dann doch immer wieder die Tür geöffnet habe. Auch noch nachdem ich klar zum Ausdruck gebracht hatte, er möge bitte nie wieder hier aufkreuzen und mich ein für alle mal in Ruhe lassen. 

Heute aber bin ich ganz sicher, würde er jetzt wieder an der Tür klingeln, ich würde nicht aufmachen. 
Heute denke ich an Dich, denke wieder an Dich. Ich erlaube es mir heute, wieder an Dich zu denken.